Kurz vor Mitternacht in Sassari, Sardiniens alter Königsstadt. Zehntausende drängen sich im Zentrum, fast jeder vierte ist Tourist. Sie wollen dabei sein, wenn wie jedes Jahr am 14. August, dem Vorabend des Festtags Mariä Himmelfahrt, Hunderte von Männern durch die Straßen tanzen: mit haushohen Kerzen auf den Schultern, die größten bis zu 400 Kilo schwer.
Vorwärts, rückwärts, kreuz und quer tänzeln die Träger mit ihren Lasten durch das Zentrum: je acht Männer, denen Trommler Beine machen. Der Kerzentanz gilt der Gottesmutter, die den Sarden besonders ans Herz gewachsen ist. „Faradda dell’Assunta“ nennen die Einheimischen den Zug der Kerzenträger, der seit 2013 zum immateriellen Kulturerbe der Unesco zählt. Eine Handvoll Zünfte sind Träger der „Festha Manna“, Sassaris größter Feier.
Die Wurzeln der Männergesellschaften reichen ins Mittelalter. Anfangs waren es meist religiöse Bruderschaften, später Gilden, in denen jeder Werktätige Mitglied sein musste. Sie vertrauten sich dem Schutz eines Heiligen oder der Gottesmutter an. In kleinen Kapellen bewahrten sie die riesigen Votivkerzen auf. Ursprünglich waren sie aus Wachs, später aus Holz. Mit der Zeit wuchsen sie zu haushohen Leuchtern, zu zweigeschossigen Bauten mit Sockel, Säule und Krone.
Spanische Kolonialherren
Gegen 18 Uhr treffen sich die Kerzenträger auf der Piazza Castello. Trommler bringen die ersten Tänzer auf die Beine. Noch haben sie Platz. Erst zwei, drei Stunden später scharen sich die Massen in Fünfer- und Sechser-Reihen um die Akteure. In Gala-Tracht zeigen sich die Chefs der Zünfte, die „Obrieri“. Das Oberhaupt der Gärtner-Gilde stelzt mit weißen Handschuhen und einer Weste aus Satin über den Platz. Andere tragen Rüschen und Halskrausen – wie Spaniens Edelleute, die jahrhundertelang als Kolonialherren auf Sardinien den Ton angaben. Fast alle Zunftmeister führen als Zeichen ihrer Macht ein Schwert mit.
Der Brauch des Kerzentragens in Sassari ist seit dem frühen 16. Jahrhundert belegt. Die Pest, weiß man im Stadtarchiv, habe ihn populär gemacht. Damals hätten sich die Bürger verpflichtet, sollte sie der Schwarze Tod verschonen, Maria zum Dank jährlich ein paar Kerzen zu stiften. Vermutlich hatten Kaufleute aus Pisa die Sitte mitgebracht. Dort ehrte man die Gottesmutter so schon im Mittelalter. Noch heute zeugen pisanische Kirchen im Hinterland vom Einfluss der italienischen Stadtrepublik, die Sardinien zur wirtschaftlichen Blüte verhalf.
Früher war der Opfergang mit den riesigen Leuchtern eine kirchliche Angelegenheit. Heute organisiert die Stadt die Prozession. Eine Verordnung regelt, wie der Umgang auszusehen hat und wer mitmachen darf. Schwarz auf weiß ist festgehalten, dass am 14. und 15. August weitere Veranstaltungen in der Stadt verboten sind. Eine Monopolgarantie ist das, ein amtliches Gütesiegel für Sassaris größte Feier.